Leseprobe

Ein Chinese sagt nicht was er denkt *

* Der Buchtitel «Ein Chinese sagt nicht, was er denkt» spiegelt ein Zitat eines chinesischen Geschäftspartners wider, mit dem der Autor zusammengearbeitet hat.

INhalt

Einleitung
7
Danksagung
11
Kapitel 1
Die Vorgeschichte
13
Kapitel 2
Der (unsichtbare) Plan
21
Kapitel 3
Die Praxis im Betrieb
31
Kapitel 4
Meine erste Reise nach China
39
Kapitel 5
Die Kunst der Täuschung
65
Kapitel 6
Wie mich meine chinesische Frau fand
75
Kapitel 7
Die dunklen Wolken verziehen sich nicht
89
Kapitel 8
Brücken zwischen Kulturen aufbauen …
und Brücken niederreißen
105
Kapitel 9
Die Kulturrevolution
123
Kapitel 10
Meine zweite und weitere Reisen nach China
145
Kapitel 11
Das Scheitern einer Zusammenarbeit
179
Kapitel 12
Was ich lernte von …
Meine Erfahrungen mit Chines*innen
201
Interview mit Frau Prof. Hongwei Gu zum Thema „Gesundheitsvorsorge ist in der TCM ein wichtiger Pfeiler“
239
Nachwort
243
Anlage
245
Literaturverzeichnis
249

Einleitung

Als ich am 27. September 2009 mit meinem chinesischen Geschäftspartner die Gründungsurkunde der Firma unterzeichnete, mit der Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin aufgebaut und geführt werden sollten, wusste ich noch nicht, dass dadurch ein Fenster geöffnet wird, das mir Einblick in die unterschiedlichen Bereiche der chinesischen Gesellschaft geben wird. Auch wusste ich damals noch nicht, dass ich zwei Jahre später meine chinesische Frau kennenlernen würde, die mir einen noch viel tieferen und persönlichen Einblick in die chinesische Gesellschaft, Kultur und Geschichte vermitteln wird.

Durch die Firmengründung lernte ich die 36 Strategeme kennen, die im wirtschaftlichen Leben Chinas eine zentrale Stellung einnehmen. Will man mit Chinesen kooperieren, so tut man gut daran, die 36 Strategeme zu kennen. List und Täuschung sind in China nicht negativ, sondern Instrumente der Zielerreichung. Nicht auszusprechen, was man denkt, ist Teil des strategischen Handelns. Aber nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Leben werden die 36 Strategeme gezielt eingesetzt. Ich weiß nicht, ob und in welchem Umfang westliche Politiker*innen davon Kenntnis haben.

Im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in China steht nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft. Diese Haltung steht im Konflikt zu einer liberalen Gesellschaft, wie wir sie bei uns kennen. Wird das Individuum zu stark, so wird die Gemeinschaft bedroht. Diese Meinung ist in China weit verbreitet. Aus diesem Grund tut man sich in China mit der Demokratie schwer. Man fürchtet, dass durch die Demokratie die Geschlossenheit der Gesellschaft verlorengeht und sich das Chaos ausbreiten wird. Das hängt auch mit den 36 Strategemen zusammen, gemäß denen lediglich eine Person Chef sein kann, alle anderen müssen ihm hörig sein. Die 36 Strategeme sollen einem helfen, am Ende nicht Sklave, sondern Chef zu sein, der befiehlt. Dieses Weltbild steht im Konflikt zur Demokratie, bei der sich alle stimmberechtigten Menschen gleichberechtigt einbringen können. Niemand hat das Recht, sich über andere zu stellen.

Demokratie ist eine große Herausforderung, die heute von totalitären Tendenzen bedroht wird. Wir alle müssen uns bewusst sein, was auf dem Spiel steht. Gelingt es uns nicht, die Demokratie zu erhalten, so wird das freiheitliche Handeln verlorengehen. Es ist meine Überzeugung, dass für die aktuellen Herausforderungen die Freiheit von zentraler Bedeutung ist. Die Probleme lassen sich nicht durch (totalitäre) Gesetze lösen, sondern es braucht Menschen, die als Individuum Verantwortung übernehmen, Kompetenzen besitzen, mit anderen Menschen zusammenarbeiten können, beharrlich, innovativ, aber auch selbstkritisch sind.

Mit den Reisen nach China wurde mir bewusst, dass China nicht auf die politische Führung zu reduzieren ist. In China findet man eine jahrtausendealte Kultur, geprägt durch unterschiedliche Denkschulen. Über mehrere Jahrhunderte wurde das Leben in China von Konfuzius beeinflusst, der bereits vor 2.500 Jahren den Menschen ins Zentrum seines Denkens stellte. Auch der Daoismus und der Buddhismus prägen China noch heute nachhaltig. Aus dem Daoismus ist die Traditionelle Chinesische Medizin entstanden. Er stellt nicht den Menschen ins Zentrum, sondern er betrachtet den Menschen als Teil des Ganzen, nicht nur der Natur, sondern des ganzen Kosmos. Reisen wir in China, so stoßen wir auf Zeugnisse der buddhistischen Religion, durch die China ebenfalls starke Impulse erhalten hat.

Wollen wir China verstehen, so müssen wir unseren Blick auf die unterschiedlichen Seiten richten, die oft im Widerspruch zueinanderstehen. Am 1. Oktober 1949 gründete Mao Zedong das neue China, das damals politisch, wirtschaftlich und kulturell am Boden lag. In einem atemberaubenden Tempo entwickelte sich China zu einer Weltmacht, die heute auf Augenhöhe zur westlichen Welt steht. Durch die Zusammenarbeit mit Chines*innen wurde mir bewusst, dass sie sehr agil sind, wenn es darum geht, neue Entwicklungen zu erkennen und Dinge aus eigener Kraft umzusetzen. Heute steht China in vielen Bereichen bereits an vorderster Front der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, die keineswegs linear verlief. Durch die Kulturrevolution wurde China in eine schwere Krise geführt. Meine chinesische Frau hat diese Zeit als Kind miterlebt. Der Traum, dass allein durch ein politisches System eine blühende Gesellschaft geschaffen werden kann, wurde zerschlagen.

Beim Aufbau und Betrieb der Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin konnte ich viel erfahren und lernen. Wir tun gut daran, uns China nicht zu verschließen, sondern von der Vitalität der jahrtausendealten Kultur zu lernen. Dazu gehört zweifelsohne die Traditionelle Chinesische Medizin, deren Wissen bereits vor mehr als 2.000 Jahren schriftlich festgehalten wurde. Durch archäologische Funde weiß man, dass ihre Wurzeln noch viel älter sind, wahrscheinlich sind sie mindestens 5.000 Jahre alt.

China wird uns in den nächsten Jahren wirtschaftlich und politisch herausfordern. Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinem Buch jene Einblicke gewähren kann, durch die Sie die Prozesse, in denen wir mittendrin stehen, besser verstehen und Sie Ihren persönlichen Weg finden können, auf die Herausforderung China proaktiv zu reagieren.

Mit Ausnahme der Familienmitglieder sind sämtlichePersonen in meinem Buch anonymisiert. Es ist nicht mein Ziel, einzelne Personen anzuklagen, sondern das Verständnis für jene Menschen zu stärken, die sich in einem Migrations- und Integrationsprozess befinden.

Mit meinem Buch will ich Probleme aufzeigen, die in einem solchen Prozess entstehen können, damit alle Beteiligten einen konstruktiven Beitrag für eine multikulturelle Gesellschaft leisten können. Es geht mir nicht darum, das Gute oder das Böse herauszustellen, sondern darum, das Sein bewusst zu machen. Um Bewusstsein.

Kapitel 1

„Die beste Möglichkeit die Zukunft vorherzusagen, ist sie zu gestalten.“

Abraham Lincoln, 1809–1865

Die Vorgeschichte

Am 27. Juni 2009 saß ich mit meinem chinesischen Geschäftspartner Dr. Wu1 beim Notar, um die für eine Firmengründung notwendigen Dokumente zu unterzeichnen. Beinahe wäre die Gründung gescheitert, denn mein chinesischer Geschäftspartner wollte nicht, dass seine Teilhabe in irgendeiner Form sichtbar wurde. In diesem Fall hätte er jedoch auch kein Verwaltungsrat der Firma oder Teil der Geschäftsführung werden können. Beide Funktionen müssen transparent sein, sonst hat er bei strategischen und operativen Entscheidungen kein Mitspracherecht. Dies konnte Dr. Wu jedoch nicht verstehen. Seine Überzeugung war: Wer eine Firma besitzt, hat das Sagen.
1 Name geändert

Ich ging davon aus, dass unser Ziel die Gründung einer Firma war, die Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin plant, aufbaut und betreibt.

Wir hatten uns sieben Jahre zuvor kennengelernt. Die Arbeit als Lehrer belastete mich damals so stark, dass ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen hatte. Meine Verdauung war schlecht, eine Darmspiegelung ergab, dass ich an Reizdarm litt. Das kam wohl vom Stress, den ich in meinem Beruf hatte. Als ich den Hausarzt fragte, wie man einen Reizdarm heilen könne, sagte er mir, dass die Schulmedizin eigentlich nicht genau wisse, wie solche Beschwerden zu heilen seien. Aufgrund seiner Erfahrungswerte sei es vermutlich möglich, mir mit Traditioneller Chinesischer Medizin zu helfen.

Bis dahin war ich noch nie in Kontakt mit Traditioneller Chinesischer Medizin gekommen. Von ihr wusste ich praktisch nichts, nur dass Nadeln im Spiel sind. Diese Vorstellung hielt mich zunächst davon ab, umgehend einen Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) zu suchen. Bei der Recherche nach dem Begriff Traditionelle Chinesische Medizin stieß ich auf die Websites von drei Praxen in meiner Stadt. Ich entschied mich für jene, deren Internetauftritt mich am meisten überzeugte.

Bei meinem ersten Termin stellte sich heraus, dass der chinesische Arzt kaum Deutsch verstehen und sprechen konnte. So gut wie möglich versuchte ich ihm mit Händen und Füßen zu erklären, was ich ausdrücken wollte. Seine positive Körpersprache ließ mich zu dem Schluss kommen, dass er mitbekommen hatte, um was es für mich ging. Erst Jahre später sollte ich von demselben Arzt lernen, dass man sich besser nicht auf das stützt, was ein Chinese nach außen zeigt. Ein Chinese sagt nicht, was er denkt. Mit Chinese war auch ganz konkret Dr. Wu gemeint. Rückblickend weiß ich nicht, ob er damals meine Ausführungen zur Gänze verstanden hatte. Nachdem ich mit meinen Informationen fertig war, bat er mich, meine Hand auf ein weiches Kissen zu legen. Mit seinen Fingern fühlte er längere Zeit meinen Puls. Anschließend machte er ein Zeichen, dass ich meine Zunge herausstrecken solle. Er studierte sie und nickte zufrieden. Anscheinend wusste er nun alles, was für eine Behandlung notwendig war.

Ich legte mich mit dem Rücken auf die Behandlungsliege. Für meine Körpergröße von 1,96 Metern war die Liege zu kurz, die Füße ragten darüber hinaus. Zum Glück konnte ich nicht sehen, wie er für die Behandlung die Nadeln vorbereitete, sonst hätte dies bei mir möglicherweise Angstgefühle ausgelöst. Bevor er eine Nadel setzte, desinfizierte er den Einstichpunkt; der Schmerz dauerte nur kurz. Auf diese Weise steckte er ungefähr zehn bis 15 Nadeln nicht nur in meinen Bauch, sondern auch in meine Beine und Arme. Heute weiß ich, dass in der TCM die Nadeln nicht nur an jenen Stellen gestochen werden, an denen sich die Beschwerden befinden.
Die Basis der Traditionellen Chinesischen Medizin bilden 14 Meridiane, die durch den gesamten Körper gehen. Jeder Meridian wird in weitere Meridiane unterteilt, die mit den Sinnesorganen Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut sowie mit allen übrigen Organen verbunden sind. So erhält man Zugriff auf ein Organ an einer Stelle, die sich an einem ganz anderen Ort befindet.
Nach der letzten Nadel bedeckte mich der chinesische Arzt mit einem leichten Baumwolltuch, sodass ich nicht frieren musste. Dann verließ er das Behandlungszimmer und ließ mich allein. Zwischendurch fragte er immer mal wieder nach, ob es mir gut gehe. Nach ungefähr 50 Minuten erlöste er mich von den Nadeln. Schnell und ohne weitere Beschwerden. Ich vereinbarte weitere Termine, da mindestens zehn bis zwölf Sitzungen notwendig waren, damit sich eine Besserung einstellen konnte.

In der Praxis war noch ein anderer Arzt tätig, der schon länger in der Schweiz war. Bei meiner Anmeldung fragte mich die Praxisassistentin, bei welchem Arzt ich mich behandeln lassen möchte. Da ich keinen der beiden kannte, überließ ich ihr die Wahl. Schon an dieser Stelle wurden wohl Weichen gestellt, die ich damals nicht bewusst wahrgenommen hatte. Die Praxisassistentin sprach Deutsch. Sie konnte mir Auskunft über die Behandlungen geben, jedoch war sie nicht in der Lage, die sprachliche Barriere zwischen mir und dem Arzt zu überwinden.

Bei jeder Sitzung wurde die Kommunikation mit dem chinesischen Arzt besser. Ich fand heraus, dass er noch nicht lange in der Schweiz war, und seine Familie – seine Frau und ein Sohn – noch in China waren. Wie musste es für diesen chinesischen Arzt sein, in einem Land zu leben, dessen Sprache er nur ansatzweise verstehen und sprechen konnte? Nach einer Behandlung fragte ich ihn spontan, ob er Interesse habe, mit mir an einem Samstag einen Ausflug zumachen. Seine Reaktion war positiv.

Wir fuhren nach Leukerbad in die Therme und auf der Rückfahrt besuchten wir Schloss Chillon am Genfersee, zweifellos eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Schweiz.

Im Auto erzählte er mir von Mao Zedong. Welche außerordentlichen Fähigkeiten er hatte, konnte er doch zwei verschiedene Dinge gleichzeitig machen: Einen Brief schreiben und sich mit jemandem unterhalten. Durch die Art und Weise, wie Dr. Wu mir von Mao Zedong erzählte, kam ich zu dem Schluss, dass es ihm ein Anliegen ist, ein positives Bild von Mao Zedong abzugeben.
Der erste und der zweite Opiumkrieg im 19. Jahrhundert unter Führung Großbritanniens hinterließen beim chinesischen Volk tiefe Narben, nicht nur durch die militärischen Niederlagen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich europäische Staaten schamlos an chinesischen Kulturgütern bedient haben, die heute in den großen Museen Europas ausgestellt sind. Durch die beiden japanischen Kriege wurde China erneut tief gedemütigt; so schwer, dass Chinesen noch heute Mühe haben, Beziehungen mit Japanern zu pflegen. Von Zeit zu Zeit wird dieser Graben in China aufgerissen. In diesen Momenten ist es dann von Vorteil, kein japanisches Auto zu besitzen, muss man doch in einer solchen Situation befürchten, dass aufgebrachte Chinesen ihren Hass auf Japan ausleben, indem sie japanische Autos beschädigen.

Am 1. Oktober1949 ist Mao Zedong zweifellos etwas Außergewöhnliches gelungen: Mit der Gründung der Volksrepublik China wurde das Land nicht nur vereint, sondern erhielt seine eigene Identität zurück. Durch die aufgezwungenen Kriege lag China 1949 am Boden. Mao Zedong musste buchstäblich von Null beginnen. Der Vater einer Assistentin unserer heutigen Praxen stand am 1. Oktober 1949 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, als Mao Zedong die Volksrepublik China ausrief. Barfuß. Damals hätten wohl wenige gedacht, dass China lediglich 70 Jahre später derart erstarken könne, dass es sich zu einer Herausforderung der westlichen Welt entwickelt. Einer der wenigen, die das vorausgesehen haben, war mein Geographielehrer: Es muss 1964 gewesen sein, als er im Unterricht sagte, nicht Russland sei eine Bedrohung für Europa, sondern China. Er sprach von der gelben Gefahr. Das meiste aus meiner Schulzeit habe ich vergessen, doch diese Aussage ist mir bis heute im Kopf geblieben.

Tatsächlich begann am 1. Oktober 1949 der unglaubliche Aufstieg Chinas. Heute ist das Land kurz davor, die Weltführerschaft in Anspruch zu nehmen. Mao Zedong hat den Grundstein dafür gelegt. Dass später während der Kulturrevolution Millionen Menschen verhungern mussten, versucht man bis heute in China weitgehend auszublenden. Nichts sollte das einmalige Erbe Mao Zedongs beflecken. Auch dass Mao Zedong mehrere Frauen hatte, verzeiht man ihm, wenn gleich dies per Gesetz verboten war. Schließlich war es früher immer auch das Privileg der chinesischen Kaiser, die nicht nur ein paar, sondern gleich hunderte Frauen in ihre Obhut nahmen. Meinem chinesischen Arzt war es offensichtlich ein Anliegen, dass ich die Bedeutung und Stellung Mao Zedongs, dem Begründer des heutigen selbstbewussten Chinas, kenne.
Wir machten in der Folge noch weitere Ausflüge in die Berge und vertieften dabei unsere Beziehung. Schon bald waren wir per Du.

Er lud mich zu sich nach Hause zum Essen ein. Es ist der Stolz eines chinesischen Gastgebers, dass es bei einem Essen nicht nur zwei, drei Gerichte gibt, sondern mindestens zehn. Er musste schon den ganzen Nachmittag gekocht haben, als ich bei ihm eintraf. Eine chinesische Mahlzeit ist weit mehr, als lediglich den Hunger zu stillen. Man lässt sich Zeit, diskutiert über China und die Welt. Unser Gesprächsthema beschränkte sich nicht nur auf China, sondern wie bei früheren Treffen sprachen wir auch über das politische Geschehen in der Schweiz, die sieben Bundesräte, durch die die Schweiz regiert wird. Für Chines*innen unvorstellbar, dass auf diese Weise ein Land regiert werden kann. Um ein Land zu führen, braucht es einen starken Machthaber, der unangefochten an der Spitze steht, so ist ihre klare Vorstellung. Das Gleiche gilt auch für eine Firma oder Institution: Es kann immer nur einen Chef geben, dem sich alle zu unterwerfen haben. Es war nicht so, dass mein chinesischer Arzt mir das so gesagt hat; das wurde mir erst viel später bewusst. Chines*innen sagen nicht, was sie denken. Aber die Tatsache, dass er mit mir über die sieben Bundesräte sprach, die gleichberechtigt die Regierung in der Schweiz bilden, war ein Zeichen, dass das für ihn ein Thema war. Wäre ich ein Chinese, so hätte ich damals seine persönliche Meinung zwischen den Zeilen verstehen müssen, nämlich dass er sich nicht vorstellen könne, dass ein Land oder eine Institution gleichzeitig von sieben Menschen gleichberechtigt regiert werden kann.

Dr. Wu sprach auch über das Essen. Er machte mich darauf aufmerksam, wie sich die Menschen in seiner Heimat, im Süden Chinas, eher vegetarisch ernähren. Im Norden Chinas sei das anders. Dort sei das Angebot für pflanzliche Nahrungsmittel zu klein, deshalb würde man sich dort vermehrt auch mit Fleisch ernähren. Würde man sich vegetarisch ernähren, so müsse man mengenmäßig mehr essen, damit genügend Energie aufgenommen wird. Studien in China hätten gezeigt, dass sich die Verdauungsorgane der Menschen, die im Süden leben, von den Verdauungsorganen der Menschen im Norden Chinas genetisch unterscheiden. Durch die Jahrhunderte hindurch haben sich der Magen und der Darm dem lokalen Nahrungsangebot angepasst.

Dr. Wu stellte in Frage, dass die Verdauung der Schweizer die Voraussetzung mitbringt, dass man sich vorwiegend vegetarisch ernähren kann. Im Süden Chinas gibt es praktisch keine Kühe, deshalb sei es für ihn sehr schwer, in der Schweiz Milchprodukte zu essen. Sein Magen war nicht daran gewöhnt. Damit ich mit dem Essen als Schweizer genügend Energie aufnehmen könne, beschränkte er sich nicht auf vegetarische Gerichte, sondern es gab auch Gerichte mit Schweine- und Hühnerfleisch.

Eine chinesische Mahlzeit besteht nicht aus verschiedenen Gängen, sondern alle Speisen kommen kurz nacheinander auf den Tisch. Eine Nachspeise gibt es nicht. Wenn man satt ist und viel getrunken hat (auf dieses Thema komme ich später zu sprechen), ist die Mahlzeit beendet. Als ich aufbrechen wollte, stellte mir Dr. Wu die Frage, ob wir gemeinsam eine Firma gründen wollen. Ein Unternehmen, das Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin plant, aufbaut und führt. Nun hatten wir wohl drei Stunden miteinander gegessen und gesprochen und kurz vor meinem Aufbruch kommt er zum eigentlichen Grund, weshalb er mich zum Essen einlud. Was sollte ich sagen? Mein Bauch war voll, Wein hatte ich auch getrunken, nicht gerade die beste Voraussetzung, um klar zu denken und Entscheidungen zu treffen. Vom Gefühl her war mir der Gedanke sympathisch, suchte ich doch in dieser Zeit eine neue berufliche Perspektive. An diesem Tag war ich jedoch nicht mehr in der Lage, klar zu überlegen und Fragen zu stellen. Eigentlich hätte man den ganzen Abend Zeit gehabt, sorgfältig über einen solchen Plan zusprechen, sich ein genaueres Bild zu machen, wie eine solche Firma aussehen könnte. Stattdessen sprachen wir über das politische System in der Schweiz und über die unterschiedlichen Verdauungsorgane in China. Die Tatsache, dass Dr. Wu erst zum Schluss zum Thema kam, für das er mich zum Essen einlud, lag nicht an ihm, sondern es ist der übliche Weg, der in China gegangen wird: Man trifft sich zum Essen, um ganz am Ende das Geschäftliche zu beschließen.

Bevor die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron den Auftrag zum Bau des Vogelnestes, das Olympiastadion in Peking, erhielten, mussten sie nicht nur einmal, sondern mehrmals nach Peking zu einem Essen fliegen. Sie wussten, dass sie beim Essen nicht über das Projekt sprechen durften, sondern dass es darum geht, sich kennenzulernen und das Vertrauen zu gewinnen, bis am Ende eines Essens das Geschäftliche innerhalb kurzer Zeit geregelt wird.

Insofern hatte ich Glück: Bei mir reichte ein Essen aus, damit mich mein chinesischer Arzt über seine geschäftlichen Pläne informierte und sodann eine positive Antwort erwartete.
Stehen wir im Leben vor einer Weggabelung, so können wir noch nicht wissen, wohin welcher Weg führen wird. Damit wir der Zukunft gerecht werden, tun wir gut daran, uns von festen Vorstellungen zu verabschieden. Zukunft lässt sich nicht vorstellen, sondern gemäß dem Zitat von Abraham Lincoln gestalten. Zukunft ist in jedem Fall unwägbar.
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